Verlag: Bucher, München (2000)
Der Lukhang-Tempel, aus dem die von unbekannten Künstlern im 17. Jahrhundert gefertigten Wandgemälde stammen, befindet sich auf einer Insel in unmittelbarer Nähe des Potala-Palastes in Lhasa, dem früheren Sitz der Dalai Lamas, .
In dem großformatigen und prachtvoll gestalteten Band >Der geheime Tempel von Tibet< werden diese Wandgemälde einer großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht, übrigens mit der ausdrücklichen Zustimmung des 14. Dalai Lama, der diese Wandbilder auch erstmals durch die Fotos von Thomas Laird zu sehen bekam; eine Reihe von Kommentaren und Erklärungen zu den Abbildungen im Buch stammen von ihm.
Die Zustimmung des Dalai Lamas wie auch die Unterstützung durch tibetische Lamas ist von dem Wunsch geprägt, dass all jene, die sich auf diese visionären Bildwerke einlassen, diese als lebendige Symbole der inneren tantrischen Tradition Tibets betrachten mögen.
Die Lukhang-Wandgemälde illustrieren den >geheimen< Pfad der buddhistischen Tantras, mittels derer der Schleier der Verblendung in „einer einzigen Lebensspanne oder gar in nur wenigen Jahren" zerrissen werden kann. Dazu - und somit zum Wesen des Tantra - erklärt der Dalai Lama:
„In frühen buddhistischen Schulen wurde gelehrt, man habe sich der Begierden zu enthalten, da sie den Geist vergifteten. Der Lehre des späteren Mahayana geht es nicht darum, diesem Gegengift aus dem Weg zu gehen, sondern ihm ein wirksames Gegengift entgegenzusetzen. Im Tantra schließlich wird die Begierde als ein wirksame Energie betrachtet, die genutzt wird für den Pfad der Erleuchtung. Vergleichen Sie die Pfauen im Dschungel, die sich von giftigen Pflanzen ernähren und diese gleichsam symbolisch in die leuchtenden Federn ihres Schwanzschmucks verwandeln."
Nach einer umfassenden Einführung, die auch die Historie der Dalai Lamas sowie Ausführungen zum Wesen der buddhistischen Kunst umfasst, schließen sich die exakten Beschreibungen der drei Bildwände ( Nord, West, Ost ) an. Interpretationen, ergänzende Anmerkungen und Übersetzungen der Inschriften sind in die Kapitel integriert. Da die Seitenzahlen gerade auf und zwischen den Bildseiten oft fehlen, ist für die Orientierung auf Grund der Beschreibungen im Text manchmal Geduld bzw. das Mitzählen der Seiten gefragt.
Das mit >Ozean der Weisheit< überschriebene Schlußkapitel des Buches bietet eine Auswahl von Zitaten aus den Schriften der Dalai Lamas, die vom 14. Jahrhundert bis heute regierten. Die Kapitelüberschrift >Ozean der Weisheit< entstammt übrigens der ursprünglich mongolischen Übersetzung des Titels Dalai Lamas, die vollständige Übersetzung lautet: „Lehrer, dessen Weisheit so groß wie der Ozean ist".
Fazit: Eine ästhetische wie spirituelle Kostbarkeit, deren Erwerb mit Sicherheit nicht für jeder Manns und jeder Frau Geldbeutel möglich ist, aber die Nutzung muss andererseits ja nicht an den eigenen Besitz geknüpft sein.
Dem im Vorwort von Ian Baker formulierten Wunsch, dass >Der geheime Tempel von Tibet< anregen soll zur Kontemplation und „mit Hilfe seiner eindringlichen Bilder neuartige Wege zu Bewusstheit und intuitiver Erkenntnis eröffnen" will, möchte ich mich anschließen und zugleich bestätigen, dass dieses Buch sowohl inhaltlich wie auch in seiner Form die besten Voraussetzungen hierfür erfüllt. Eine umfangreiche Bibliographie und ein vier Seiten umfassendes Glossar runden den positiven Gesamteindruck ab.
Buchsprechung:
Auch offenbarte Geheimnisse entfalten ihre verborgenen Kostbarkeiten. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts diente ein kleiner, hinter dem Potala-Palast in Lhasa gelegener Tempel, der so genannte "Lukhang", den früheren Dalai Lamas als Refugium für ihre meditativen Übungen. Besonders im obersten Stockwerk befinden sich äußerst wertvolle und künstlerisch anspruchsvolle Wandmalereien, die eine einmalige Zusammenschau tantrischer Visionen, Praktiken und erleuchteter Wesen bietet. Nicht nur der Impetus zum Bau dieses "Tempels der Schlangengeister", sondern vor allem die Inhalte der zum Großteil den Dsogtschen-Lehren verpflichteten Malereien gehen auf die mystischen Visionen des Fünften Dalai Lama zurück, der 1642 erstmals die weltliche und spirituelle Führung Tibets in seiner Person vereinte. Dieser pflegte vor allem die höchsten Lehren über die Große Vollendung (Dsogtschen), welche "den konkreten Weg weisen, auf dem Körper und Geist transformiert werden und der Zustand des Allbewusstseins erreicht werden kann".
Das Buch bietet eine sachkundige Beschreibung des Tempels. Ein Kapitel gibt eine knappe Einführung in die tibetisch-religiöse Kunst und ihre Ursprünge und Stilarten. Die Beschreibungen der Wandmalereien erfolgt in drei Abschnitten: Die Bilder der Nordwand geben u.a. Yoga-Körperhaltungen, den Verlauf feinstofflicher Energiebahnen, die Götter des Zwischenzustandes, verschiedene Seinszustände, innere Visionen und Meditationspraktiken wieder. Diese in Stil und Ausdruckskraft einmaligen Bildnisse scheinen zum Teil nüchterne "Gebrauchsanweisungen" für tantrische Übungen zu sein, veranschaulichen gleichzeitig aber einen geheimen Pfad, der sich mit Worten niemals adäquat ausdrücken lässt.
Auf der Westwand, von den Autoren als "Pfad zur Befreiung" betitelt, sind vorbereitende Übungen des Dsogtschen gemalt sowie Körperstellungen und Techniken, die zu bestimmten Visionen führen. Zudem sind u.a. drei Arten der Befreiung abgebildet. Im letzten Abschnitt werden die besonders ausdrucksvollen Bildnisse der tantrischen Meister, der Mahasiddhas und Rishis, dargestellt.
Wie sorgfältig das Buch erarbeitet wurde, lässt sich nicht nur an der umfangreichen Bibliographie und dem guten Glossar, sondern auch an der Wiedergabe der tibetischen Originalbeschriftungen der Wandmalereien und ihrer Übersetzungen ablesen. Behutsam haben die Autoren in Zusammenarbeit mit kompetenten Meistern einen eindrucksvollen Bildband geschaffen, der nicht nur von dem großen Einfühlungsvermögen und Kenntnisreichtum der Autoren zeugt, sondern den Geist der dargestellten geheimen Lehren weiter trägt. Besonders ansprechend ist, dass ein Großteil des Textes aus gut ausgewählten Zitaten früherer oder zeitgenössischer buddhistischer Meister, meist der Dalai Lamas, besteht.
Besonders wertvoll wird das Buch auch dadurch, dass viele der Zitate von S.H. dem 14. Dalai Lama eine direkte Kommentierung der Wandmalereien darstellen. S.H. hatte, wie er in seinem Geleitwort schreibt, den Lukhang vor seiner Flucht aus Tibet nur durch ein Fernrohr betrachten können. So hat der Dalai Lama erstmals den 'geheimen Tempel' durch das Mittel der photographischen Abbildungen 'betreten' können.
Ein wunderbares und die Inspiration vieler Jahrhunderte weitergebenes Buch.
Zustand: sehr gut. Mit Schuber