Der Text Lo dschong dhön dün ma, die Geistesschulung in sieben Puntken, ist eine äußerst kompakte Unterweisung in der Form eines persönlichen Ratschlags. Sie wurde von Gesche Tschekawa (1102 - 1176) verfaßt, einem der frühen Kadampa Meister Tibets, die sich, den Unterweisungen des großen indischen Gelehrten Atischa folgend, auf diese Anwendung spezialisiert hatten.
Es ist eine Methode, um Egoismus vollständig zu besiegen und wirklichen Altruismus, die unabdingbare Grundlage für Bodhitschitta, zu entwickeln. Dieser Text wird in allen Traditionen des tibetischen Buddhismus hoch geschätzt, gelehrt und kommentiert.
Textauszug:
So sehnen wir uns danach, Glück zu erleben und Leid nicht erfahren zu müssen, und strengen uns auch ständig an, dieses Ziel zu erreichen. Diese Eigenschaft haben nicht nur wir Menschen, sondern selbst bei kleinsten Insekten bestimmt dieses grundlegende Sehnen alle Aktivitäten. Das ist auch der Grund, weshalb wir ständig in Eile sind, weshalb wir immer wieder beteuern müssen, keine Zeit zu haben. Ständig gehen wir Aktivitäten nach, von denen wir uns Glück und Wohlbehagen erhoffen. Das macht unsere Situation sehr eigenartig. Wir sind immer damit beschäftigt, Dinge zu tun, die uns Wohlbehagen bringen sollten. Wenn wir aber danach gefragt werden, wann genau wir das ersehnte Wohlbehagen erfahren, dem wir in allen unseren Handlungen nachjagen, dann können wir nur schwerlich einen exakten Zeitpunkt angeben. Wir können vielleicht sagen, daß wir ein geringes Maß an Wohlbehagen zu verschiedenen Zeiten erfahren. Einen genauen Zeitpunkt aber, wann wir das ersehnte Glück tatsächlich erfahren, können wir nicht anführen.
Anders ausgedrückt: Wir sind so intensiv damit beschäftigt, die Ursachen für Glück zu sammeln, daß wir keine Zeit mehr haben, dieses Glück zu erfahren. Vielleicht können wir noch den Urlaub als letztliches Resultat angeben, das aus unserem fieberhaften Sammeln der Ursachen für Glück hervorgeht. Die Urlaubszeit währt relativ kurz, die restliche Zeit verbringen wir damit, die Ursachen für das ersehnte Glück sicherzustellen. So sind die Gelegenheiten, das ersehnte Glück zu erfahren, relativ selten. Die meiste Zeit über sind wir vor allem in großer Eile, die Ursachen dafür zu finden.
Ob uns der Urlaub wirklich eine Erfahrung von Glück beschert, die uns vollkommen zufrieden und glücklich macht, ist wieder eine andere Frage. Man hat sich vielleicht gewünscht, an einen unbekannten Ort zu reisen. Ist man dann während der Ferien wirklich dort, finden wir es in den ersten paar Tagen vielleicht auch recht spannend; weil es einfach anders ist. Bleibt man längere Zeit dort, wird es langweilig - genauso langweilig wie es sonst ist.
Wo man seine Ferien verbringt, gibt es auch Menschen, die das ganze Jahr über dort leben. Diese Menschen denken daran, wie schön es wäre, einmal in die Berge und an Seen zu fahren. Sie strengen sich dann vielleicht an, Mittel aufzubringen, um auch einmal von dort wegzukommen, wohin wir in Urlaub gefahren sind. Vielleicht haben sie diese Mittel, vielleicht auch nicht, auf jeden Fall sehnen sie sich danach, einmal woanders hinzukommen.
So strengen wir uns an, das ersehnte Glück zu erfahren, indem wir Urlaub machen, indem wir umziehen, indem wir uns an einen anderen Ort begeben, indem wir sparen, indem wir Geld verdienen, indem wir vielleicht Handel treiben und indem wir versuchen, viele Leute zu treffen und immer wieder neue Leute, und manchmal auch, indem wir die Leute, mit denen wir verbunden sind, austauschen. Es gibt also eine ganze Palette von Beschäftigungen, denen wir nachgehen, um das ersehnte Glück zu erfahren. Manchmal gelingt es uns dadurch auch, ein bißchen Wohlbehagen zu erhaschen, manchmal wieder nicht, und manchmal verursacht das, womit wir eigentlich Glück erlangen wollten, mehr Probleme, als wir ohnehin schon hatten. Manchmal aber gelingt es uns eben doch, etwas Angenehmes zu erfahren. Ein Glück, mit dem man wirklich zufrieden sein könnte, von dem man sagen könnte: "So, das war's, das war genug, damit hab ich es erreicht", finden wir dagegen nicht.
Die Mittel, die wir einsetzen, sind manchmal in der Lage, uns von Zeit zu Zeit ein kurzlebiges Glück zu verschaffen. Ein bleibendes Glück, ein Glück, das nicht wieder vergeht, erreichen wir nicht. Der Grund dafür liegt darin, daß wir die eigentlichen Ursachen von Glück und Wohlbehagen nicht kennen. Womit wir uns rund um die Uhr befassen, sind lediglich Umstände für Glück; Dinge, die als Umstände zur Erfahrung von Glück dienen können. Wir sind pausenlos bemüht, uns Umstände für Glück einzurichten, ohne zu wissen, was die eigentlichen Ursachen von Glück sind. Ebensowenig sind wir imstande zu erkennen, was die eigentlichen Ursachen unserer Erfahrungen von Leid sind. Wir kennen lediglich Umstände, die in uns Leid auslösen, und sind beschäftigt, diese Umstände so zu arrangieren, daß die Erfahrung von Leid ausbleibt.
Manchmal machen wir allein schon Fehler, wenn wir zwischen einem Umstand für Glück und einem Umstand für Leid unterscheiden. In der Meinung, einen Umstand so zu verändern, daß er uns Wohlergehen bringt, erreichen wir nichts anderes als Leid. Die eigentlichen Ursachen für das Erfahren von Glück und Leid sind uns entweder nicht bekannt, oder wenn sie uns bekannt sind, interessieren wir uns nicht dafür.
Wurzeltext der 'Mahayana-Geistesschulung in sieben Punkten' aus dem Tibetischen . 2001 . 203 S. 19 cm