Bei diesem sog. Lam Rim-Text handelt es sich um ein absolutes Standardwerk des Tibetischen Buddhismus, das den stufenweisen Praxis- und Entwicklungsweg vom Stadium eines Anfängers bis hin zur Realisation desjenigen Zustandes, den man ,Buddha, den erleuchteten Zustand’ nennt, detailliert präsentiert und kommentiert. Obschon auch die anderen Traditionen über eigene Lam Rim-Texte verfügen - beispielsweise Patrul Rinpoches "Die Worte meines perfekten Lehrers" (Nyingma), Je Tsongkhapas "Great Exposition of the Path to Enlightenment" (Gelug) oder die Lam Dre-Belehrungen (lam 'bras) Virupas, wie sie in der Sakya-Linie tradiert sind - wird diese Schrift auch in den anderen buddhistischen Schulen studiert, weil sie den Leser inspirieren, aber auch, weil eine solche allgemeine Darstellung des stufenweisen Praxisweges kaum die kennzeichnenden Unterschiede in Theorie und Praxis zwischen den verschiedenen Traditionen berührt.
Gampopa, der Hauptschüler des heute über die Grenzen Tibets hinaus bekannten Yogis Milarepa, erhielt von jenem dreizehn Monate lang Belehrungen und Übertragungen - insbesondere die sechs Doktrine von Naropa und die vollständigen Belehrungen des Mahamudra. Später verschmolz er diese Kenntnisse mit denen der Kadampa-Tradition, die er bereits früher ausgiebig studiert hatte. Nur an fünf seiner Schüler gab er sämtliche Vajrayana-Übertragungen, die er empfangen, studiert und verwirklicht hatte, vollständig weiter. Da sein bedeutendster Schüler der erste Gyalwa Karmapa Düsum Khyenpa - die erste bewußte Wiedergeburt überhaupt - war, kann man ihn als den Wegbereiter der Karmapas ansehen. Es war dieser Vorläufer der Karmapas [quasi der nullte Karmapa], der den "Juwelenschmuck der Befreiung" verfaßte, um alle, die das gute Karma dafür besitzen, damit vertraut zu machen, was es mit der Lehre auf sich hat, die erklärt, wie die Dinge auf der relativen und auf der absoluten Ebene der Wirklichkeit tatsächlich sind. Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich also um ein Kompendium des gesamten Buddhismus, den praktizierende Buddhisten auch heute noch zur Grundlage und zu einem Leitfaden für ihr ganzes Leben machen können - und sollten!
Wer immer sich folglich der Mühe unterzieht, Gampopas Lehren zu studieren und über sie nachzudenken, macht von der einzigartigen Möglichkeit Gebrauch, sich von allen unausgereiften Vorstellungen und haltlosen Spekulationen darüber, was Buddhismus tatsächlich ist, freizumachen. Und Gampopa macht es seinen Lesern wirklich leicht: Zwar ist sein Werk von einer für westliche Literatur ungewöhnlichen Kondensiertheit und Strukturiertheit, jedoch lassen sie niemanden, der sich ihnen öffnet, verständnislos zurück.
Albrecht Frasch hat seine Neu-Übersetzung aus dem Tibetischen an der Übersetzung einer von Khenpo Tsulthrim Gyamtso Rinpoche angefertigten Kurzform des vorliegenden Textes (tib: thar rgyan gyi bsdus don), die er im Winter 1988/89 im Marpa Institute for Translators in Kathmandu studierte, orientiert. Wegen seiner Nähe zum tibetischen Original bietet sich der vorliegende Text geradezu dafür an, in Verbindung mit der tibetischen Urschrift Wort für Wort nachvollzogen zu werden. Wer über Grundkenntnisse der tibetischen Sprache sowie über ein gutes Wörterbuch verfügt, kann der Übersetzung anhand des tibetischen Textes, der hier als PDF-Dokument heruntergeladen werden kann, bis ins Detail hinein folgen und dadurch tief in die Logik und das Verständnis der tibetischen Philosophie und sogar in die Denkweise Gampopas eindringen. Da in dieser Übersetzung die Sprache Gampopas nicht in der üblichen Weise geglättet und modernisiert wurde, blieb die Sprech- und Denkweise Gampopas so authentisch wie möglich erhalten, was uns bis auf den heutigen Tag die einzigartige Gelegenheit gibt, durch die Kraft der Worte Gampopas unmittelbar zu einem tiefen Verständnis über das Wesen der Dinge vorzudringen, und so nach und nach subtiles Wissen bzw. eigentliche Erkenntnis zu entwickeln.
Verlagsauflösung. Letzte beide Exemplare