Während ich zu Abend esse, macht Passang mein Feldbett zurecht. Zwar fehlt es in dem Haus, in dem ich mich befinde, nicht an Betten, aber es widerstrebt mir, ein Bett zu benutzen, in dem andere geschlafen haben. Nebenbei weise ich daraufhin, dass mein Widerwille in dieser Beziehung dazu beigetragen hat, mir die Achtung der Hindus reiner Kasten zu erwerben, doch gleichzeitig muss ich erwähnen, dass sie selbst ihre alten Regeln weniger streng befolgen. Am nächsten Tag breche ich nach einem leichten Frühstück - zwei Eier und zwei Bananen - im Morgengrauen auf. Ein Aufbruch ist stets die Verheißung eines Abenteuers, und als solches begrüße ich dieses, das mich in ein Land führen soll, in das zu reisen ich nie geplant hatte. Ein weiteres Mal hatte das maliziöse Schicksal es unerwartet übernommen, mich zu lenken, wohin es wollte. Das für mich bestimmte Beförderungsmittel ist ein Bett. Nun ja, ein Bett nach indischer Art, das heißt ein Gestell mit sehr niedrigen Beinen, das mit Gurten bespannt ist; auf diese breite ich mein Bettzeug aus: eine Matte und Decken. An den vier Ecken dieses Bettes angebrachte Bambusstangen tragen ein Leinwanddach, von dem Vorhänge herabhängen. Das Ganze ähnelt einem Moskitonetz mit dem Unterschied, dass der Stoff nicht Tüll, sondern ein Baumwollgewebe ist. Dieses Dach und die Vorhänge werden mich vor der Sonne schützen und mich abschirmen, falls ich unterwegs schlafen möchte. Man hat mich wissen lassen, dass die Etappe lang sein wird. Zwar wirkt das leichte Schaukeln, in das die Träger mein Lager versetzen, durchaus einschläfernd, aber für den Augenblick bin ich "ganz Auge". Ich halte die Vorhänge offen und betrachte die Landschaft und die wenigen Vorübergehenden. Als ich tags zuvor bei ruhigem Wetter in Digha Ghat den Ganges überquerte und ein blasser Himmel die Dinge mit zartem Licht umhüllte, hatte ich das Gefühl freudiger Erleichterung; mir war, als fielen schwere Kleider, die mich einzwängten, von mir ab, sodass ich frei atmen konnte. Ein mehrmonatiger Aufenthalt in Kalkutta und die Lebensweise, zu der ich dort gezwungen war, auch wenn ich Geselligkeiten mied, hatten mich angestrengt. Jetzt aber jauchzt die geborene Wilde, die ich bin, in der Vorahnung des nahen Dschungels. Doch im Dschungel sind wir noch nicht. Wir folgen einer langen, von bestellten Feldern gesäumten Straße in der Ebene; es ist die Fortsetzung der eintönigen Landschaft, durch die ich mit der Eisenbahn in den vorangegangenen Tagen gefahren bin. Aber im Norden erscheinen, sehr ferne, die schneebedeckten Gipfel des Himalayas, meiner alten, verehrten Freunde: ich begrüße sie mit Inbrunst.
Autorenportrait
Alexandra David-Néel (1868 - 1969) war vor allem eine Abenteurerin und eine "Powerfrau" sowie eine mutige Reisende und begnadete Reiseschriftstellerin. Als Orientalistin und Philosophin reiste sie über drei Jahrzehnte hinweg durch Asien, den Kontinent ihrer Träume. Als begeisterte Buddhistin verbrachte sie zwei Jahre als Klausnerin in den Bergen des Himalaja. Sie erlebte Tibet, seine Menschen vom edlen Philosophen bis zum verwahrlosten Dorfbewohner, und sie berichtete - zunächst in öffentlichen Vorträgen - darüber. Die Autorin hatte sich im Laufe ihres Lebens zur anerkannten Kennerin des tibetischen Buddhismus entwickelt, die mit dem Dalai Lama und Ghandi gleichermaßen bekannt war. Später veröffentlichte sie Reiseberichte und Reisetagebücher ebenso wie Fantasystorys, ein Wörterbuch, eine Grammatik, Ethnografien, einen Thriller usw.
Personenportrait
Eva Moldenhauer, 1934 in Frankfurt/Main geboren, ist seit 1964 als Übersetzerin tätig. Sie übersetzte u.a. Claude Simon, Jorge Semprun, Agota Kristof, Jean Paul Sartre und Lévi-Strauss. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. 1982 mit dem "Helmut-M.-Braem-Preis" und 1991 mit dem "Celan-Preis". 2005 wurde sie für ihre Neu-Übersetzung von Claude Simons "Das Gras" für den "Preis der Leipziger Buchmesse" nominiert. 2012 wurde Eva Moldenhauer mit dem "Prix de l'Académie de Berlin".ausgezeichnet.