Eine unzerstörbare Vision, einen Willen aus Stahl und eine ungewöhnliche Zähigkeit besaß die Frau, der es unter lebensbedrohlichen Entbehrungen gelang, das Dach der Welt zu besteigen, sich als Europäerin hineinzuschleichen in die verbotene Stadt Lhasa, ihr ihre Geheimnisse zu entreißen und sie in über dreißig Büchern der ganzen Welt zugänglich zu machen.
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war Tibet noch ein unberührter Flecken der Erde, mystisch und voller Legenden. Für große Teile des Landes gab es keine Landkarten. In den Weiten der Schneelandschaften und Wiesen mit wilden Orchideen wimmelte es von Geistern, prophetischen Erscheinungen und Dämonen. Die buddhistische Religion und die sagenhafte Stille der Täler hatten ein Reich geschaffen, in dem es eine Wirklichkeit gab, die zu unserer gänzlich verschieden ist. Lhasa war der Wallfahrtsort für die Mönche und Pilger. Hier residierten die verschiedenen Reinkarnationen des Dalai Lamas. Sie schürten die Neugier der Welt und den Ehrgeiz so mancher Abenteurer, indem sie jedem Fremdling den Zutritt zur heiligen Stadt verwehrten.
Solch eine Herausforderung konnte für Alexandra David-Néel gerade groß genug sein. Wie ein roter Faden zieht sich ihr Hang zur Mystik, langen Reisen und gefährlichen Abenteuern bereits durch ihr junges Leben. Sie nutzt jede Gelegenheit, um die Flucht aus der Enge ihres Elternhauses zu ergreifen. Gemälde mit eisbedeckten Gletschern können sie in ein tiefes Entzücken versetzen. Leidenschaftlich setzt sie sich mit den verschiedenen Weltreligionen auseinander und konvertiert früh zum buddhistischen Glauben. Als eine Frau des 19. Jahrhunderts legt sie eine beachtliche Unabhängigkeit an den Tag. Sie fällt als rebellische Studentin auf, kämpft für die Gleichberechtigung der Frau, macht in esoterischen Kreisen ihre ersten spirituellen Erfahrungen und startet eine Karriere als Opernsängerin. Entgegen ihren Prinzipien heiratet sie Anfang dreißig den wohlhabenen Industriellen Philippe Néel, um ihm jedoch bald den Rücken zu kehren und sich auf die Mission ihres Lebens einzulassen.
Alexandras Biographie liest sich wie ein Abenteuerroman. Viele Jahre reist sie durch Indien, Nepal oder China, geht eine romantische Beziehung zum Maharadscha von Sikkim ein und begibt sich am Himalaya in die Lehre eines Gurus. Über gewundene Pfade pirscht sie sich langsam an ihr eigentliches Ziel heran, bis sie sich endgültig aufmacht, das Unmögliche zu erreichen. Als altes Bettelweib verkleidet und nur von ihrem Adoptivsohn begleitet, bezwingt sie die tibetischen Gletscher im Winter und triumphiert im Jahre 1924 als erste Europäerin über die verbotene Stadt. Ein gutes halbes Jahrhundert ist sie da alt und noch ein halbes Jahrhundert wird ihr verbleiben, um über ihre Forscherreisen in Tagebüchern und Romanen zu berichten. Den unbegehbaren Weg nach Lhasa gegangen zu sein, bleibt ihr größtes Vermächtnis und später in ihrem Haus in Südfrankreich gibt sie zu, daß es eine Reise des Wahnsinns war, die sie letztendlich nur durch die Stimulanz eines homöopathisch dosierten Giftes schaffen konnte.
Vergriffen. Gebraucht sehr gut